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Interview zur Medienkompetenz: „Wir meinen, wir haben den besseren Durchblick“

Wie wichtig Medienkompetenz für uns den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und für unsere demokratische Grundordnung ist, erklären die Expertinnen Nathalie Rücker und Marisa Wengeler vom „Institute for Strategic Dialogue“ (ISD) Berlin. Die unabhängige Denkfabrik zur Erforschung von Hass und Extremismus im Netz hat es sich zum Ziel gesetzt, die Demokratie im digitalen Zeitalter zu schützen und Lösungen gegen Extremismus und Polarisierung zu entwickeln. 


Frau Rücker und Frau Wengeler: Was hat sich für die Demokratie mit dem Internet und den sozialen Medien als neue unerschöpfliche Nachrichtenquelle geändert?

Wir erleben seit einigen Jahren eine riesige Veränderung in der Medienlandschaft. Die Entwicklungen im Internet haben dazu beigetragen, dass wir als Nutzer viel mehr als früher Dinge filtern und bewerten müssen. Jegliche Informationen sind jederzeit abrufbar, und jeder kann individuell selbst etwas zu den Inhalten beitragen. Es gibt hier kein zwischengeschaltetes Nachrichtenmedium das journalistischen Qualitätsstandards und standartisierten Überarbeitungsprozessen folgt, mehr, dass diese Inhalte prüft und gegebenenfalls falsche Inhalte aussortiert. Das muss jeder Nutzer nun selbst übernehmen und das kann einige Herausforderungen mit sich bringen.

Ist das Internet nicht gerade gelebte Demokratie, weil jeder sich zu jedem Thema frei äußern kann?

Die Inhalte, die auf uns einprasseln, beinhalten aber auch demokratiegefährdende Hassrede (Hass gegen Personen oder Gruppen insbesondere durch die Verwendung von Ausdrücken, die der Herabsetzung und Verunglimpfung von Bevölkerungsgruppen dienen) und Desinformationen, also gezielt verbreitete Falschmeldungen, die nicht immer auf den ersten Blick leicht zu erkennen sind.

Inwiefern?

Demokratiefeindliche Kräfte delegitimieren zum Beispiel mit gestreuten Falschmeldungen gezielt staatliche Institutionen wie Politiker oder die Polizei, um das Vertrauen in sie zu untergraben. Das heißt nicht, dass man keine Kritik an diesen Institutionen üben darf. Im Gegenteil, das muss man sogar in einer Demokratie. Doch wenn das Misstrauen so sehr geschürt wird, dass wir uns auf nichts mehr verständigen können, nutzen andere Kräfte mit einfachen Antworten und Lösungen unsere heraufbeschworenen Ängste für ihre Agenda und Ziele aus.

Das heißt:

Erst wird ein Problem erzeugt und dann sofort eine Lösung angeboten, die plausibel erscheinen soll. Das hat Methode. Doch erst, wenn man diese Strategie als solche überhaupt erkennt, kann man darauf angemessen reagieren. Dafür braucht es die Medienkompetenz eines jeden, der im Internet und auf sozialen Netzwerken unterwegs ist.

Nathalie Rücker und Marisa Wengeler

Warum lassen sich Menschen so schnell von Falschinformationen überzeugen – vor allem, wenn es sich um emotionalisierende Themen und Negativschlagzeilen handelt, die etwa Wut, Angst oder Neidgedanken auslösen?

Emotionen sind ein großes Schlüsselwort bei Desinformationen. Etwas, das uns emotional aufwühlt, also zum Beispiel traurig oder wütend macht, wird von uns Menschen weniger stark hinterfragt. Unsere Fähigkeit, etwas sachlich zu bewerten, wird durch diese starken Emotionen sozusagen eingeschränkt beziehungsweise zurückgedrängt. Genau deshalb funktionieren gezielte Falschinformationen bei emotionalen Themen besonders gut. Wir hinterfragen Informationen, die starke Emotionen in uns auslösen, viel weniger, was wiederum von genau den Menschen ausgenutzt wird, die Desinformationen verbreiten.
Besonders gesellschaftliche Themen, die polarisieren (zum Beispiel das Thema Flucht und Migration), werden als Einfallstor für Meinungsmanipulation genutzt. Außerdem wirken noch weitere Prozesse im Hirn, die dazu führen, dass wir Inhalte, die uns begegnen, weniger hinterfragen – die sogenannten kognitiven Verzerrungen. Gegen die übrigens kein Mensch gefeit ist. Einerseits neigen wir alle zur Selbstüberschätzung und halten uns für weniger beeinflussbar von negativen Nachrichten oder Falschmeldungen als andere. Wir meinen, wir haben den besseren Durchblick. Andererseits nehmen wir Nachrichten, die zu unserem eigenen Weltbild passen und unsere Wahrnehmung bestätigen, viel schneller an.

Ein Beispiel:

Bin ich der Meinung (ohne, dass es wissenschaftlich belegt ist), dass die meisten Raser eine bestimmte Automarke fahren, dann werde ich diese Autos auch eher wahrnehmen, wenn sie auf der Autobahn an mir vorbeidüsen, weil meine selektive Aufmerksamkeit mich trügt.

Nathalie Rücker und Marisa Wengeler

Hinzu kommt noch ein weiterer Mechanismus: Das Gehirn ist ununterbrochen damit beschäftigt, viele Informationen zu sortieren und zu bewerten. Schwarz-Weiß-Malereien können viel einfacher vom Gehirn abgehakt werden als komplexe Grautöne. Einfache Erklärungen, Verkürzungen auf nur wenige angeblich mögliche Optionen und klar benannte Feindbilder werden also im Fluss der nicht abreißenden Nachrichtenflut von uns bevorzugt, da sie leichter zu verarbeiten sind. All diese Prozesse im Gehirn führen dazu, dass wir die Inhalte, die uns begegnen, viel weniger kritisch hinterfragen.

Wir können also gar nichts dafür, wenn wir uns von dramatischen Skandalmeldungen mitreißen lassen, ohne diese auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen?

Menschen sind tatsächlich sehr anfällig für Hassrede, Desinformation oder Verschwörungserzählungen. Vor allem in Krisenzeiten, wie wir sie gerade erleben, oder bei schrecklichen Ereignissen, deren Ursachen und Hintergründe wir nicht kennen oder erfassen können. Die eigene Unsicherheit und das Gefühl des Kontrollverlustes, der Wunsch nach Klarheit ist nur schwer aushaltbar. Dieses starke innere Bedürfnis nach Stabilität und Ordnung kann dann sehr effektiv von Dritten ausgenutzt werden – oft unter dem Vorwand, geheime, unerwartete oder reißerisch aufgemachte Insiderinformationen zu bieten.

Es tut uns nämlich gut, Verantwortliche zu finden, die vermeintlich die Schuld an einer Misere tragen. Das Gehirn kann somit die eigene Unsicherheit endlich wieder auflösen. Sündenböcke werden dann gern an den Rändern unserer Gesellschaft gesucht, etwa unter Minderheiten (Menschen mit Flucht- oder Migrationsgeschichte, queere Menschen, arme Menschen, Juden und Jüdinnen usw.). Dies bestätigt dann wiederum unsere möglicherweise bereits vorhandenen Vorurteile und Klischees – und damit setzt im Kopf wieder der Bestätigungseffekt ein:

Ich habe es ja schon immer gewusst, die sind daran schuld!

so der Bestätigungseffekt

Das konstruierte vermeintlich Gemeinsame wäre etwa im Fall der Schuldzuweisung an Migranten dann „das Deutsche“ – selbst wenn Menschen, die Hass gegen Migranten schüren, in vielerlei Hinsicht häufig mehr mit diesen Minderheiten gemein haben als mit ihren eigenen reichen Chefs. Der auf die Migranten abgeleitete Hass wird von politischen Akteuren bewusst so genutzt, dass die Erzählung „Wir“ und „die Anderen“, im nächsten Schritt zu „Wir sind besser als die Anderen“ und damit zu „Wir gegen die Fremden“ stärker wird.

So wird die Gesellschaft gespalten, anstatt bei Gemeinsamkeiten anzusetzen und sich bei Herausforderungen im Alltag miteinander zu solidarisieren.

Nathalie Rücker und Marisa Wengeler

Wenn wir uns aber diese psychologischen Effekte in unseren Köpfen immer wieder bewusstmachen, dann ist schon viel gewonnen. Wenn ich weiß, dass ich mich von negativen Schlagzeilen mitreißen lasse und schnell emotional aufspringe, dann kann ich beim Lesen innerlich zurücktreten, nicht nur die Überschrift, sondern den gesamten Artikel lesen und mich dann hinterfragen: Warum fesselt mich gerade dieser Artikel? Gibt er mir meine innere Kontrolle zurück? Spielt er mit meinen Ängsten? Bestätigt er meine persönliche Unzufriedenheit? Wird hier bewusst Hass gegen eine Gruppe geschürt und wenn ja, was könnte dahinterstecken?

Wenn meine eigenen Ansichten in Meldungen bestätigt werden, ist doch für mich gar kein Grund gegeben, diese überhaupt kritisch zu hinterfragen! Warum sollte ich das also trotzdem tun?

Weil im Internet noch ein weiterer Faktor entscheidend ist: Der Algorithmus der Plattformen, der uns Nachrichten anzeigt und Themen oder Werbung vorschlägt. Eben weil der Mensch auf der Suche nach dauernder Bestätigung ist, erkennt der Algorithmus meine Interessen oder Likes und zeigt mir schnell nur noch das an, was ich lesen will. Genau das kann gefährliche Auswirkungen haben.

Wir müssen vorsichtig sein mit dem, was wir im Netz klicken und liken, welche ungeprüften Nachrichten wir teilen oder kommentieren.

Nathalie Rücker und Marisa Wengeler

Nicht nur, dass dahinter ein Geschäftsmodell steht, dessen sich die meisten Menschen gar nicht bewusst sind. Denn mit unseren Meinungen, unseren Kommentaren im Netz, machen Plattformen Geld. Umso aufgeregter, radikaler und empörender eine Debatte geführt wird, umso länger hält es die Nutzer auf den Plattformen. Das hat zur Folge, dass uns nicht nur Inhalte angezeigt werden, die unser Weltbild bestätigen, uns also gut gefallen.

Der Algorithmus zeigt uns bewusst auch Dinge an, die unserer Einstellung ganz und gar nicht entsprechen, uns sogar wütend oder traurig machen. Zugespitzt: Mit Verrohung und Hass wird Geld verdient. Dabei wissen viele Nutzer nicht, dass das Internet kein rechtsfreier Raum mehr ist, sondern dass Hass und Hetze im Netz strafbar sind – und dies wird im Zuge der Einführung einer neuen europäischen Gesetzgebung („Digital Service Akt“) noch weiter zunehmen.

Der Algorithmus erschafft ganz bewusst eine emotionalisierende Umgebung für mich, die fortwährend auf Bestätigung und Polarisierung setzt, nicht auf ausgewogene und sachliche Debatten. Nach dem Motto: „Das stand doch aber so im Internet!“ Der Weg – selbst vom tatsächlichen Fakt – zur Verschwörungstheorie kann plötzlich sehr kurz sein. Wenn man sich dessen nicht bewusst ist, kann die Realität im Zweifel verzerrt wahrgenommen werden. Im gesellschaftlichen Zusammenhang können Desinformationen radikalisierend und demokratiegefährdend wirken.

Bild vergrößern: Digitale News richtig einschätzen. Ein Bildschirm mit Breaking News und ein Smartphone. © Stadt Velten
Digitale News richtig einschätzen.

Die im Netz scheinbar bestätigt vorgefundene eigene Unzufriedenheit wird irgendwann zur Wut gesteigert. Wenn nun auch noch andere Nutzer in den Kommentaren meine Weltsicht lautstark teilen oder aber anderer Meinung sind, setzt eine fatale Gruppendynamik ein. Der Diskurs schaukelt sich hoch: Aus Wut wird Hass.

Diesen Prozess dann aber überhaupt noch selbstkritisch zu erkennen und sich gar eingestehen zu müssen, womöglich Desinformationen aufgesessen zu sein, ist schwierig. Denn diese Erkenntnis rührt unser Innerstes, unsere gewonnenen Überzeugungen von der Welt an und sorgt wieder für Verunsicherung und ein Gefühl des Kontrollverlustes. Deshalb ist eine frühzeitig erworbene Medienkompetenz heute so enorm wichtig für die Stabilität unserer demokratischen Gesellschaft. Nur wenn ich die Gefahren im Netz kenne und Instrumente dagegensetzen kann, kann ich mich differenziert, unaufgeregt und kritisch mit der Nachrichtenflut auseinandersetzen. Es gibt nicht nur ein Schwarzweiß, nicht nur ein Entweder-Oder. Es gibt Grautöne.

Weitere Informationen unter: https://isdgermany.org